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Interview mit John Berrigan

Im Gespräch mit dem Generaldirektor der GD FISMA über die Energiekrise, Sanktionen gegen Russland und die künftige digitale Agenda.

Datum:  30/09/2022

Im Gespräch mit dem Generaldirektor der GD FISMA über die Energiekrise, Sanktionen gegen Russland und die künftige digitale Agenda.

Das große Thema, das uns alle beschäftigt, ist die Energiekrise und ihre Auswirkungen auf die Menschen. Welche Rolle kommt Ihrer Auffassung nach den Finanzmärkten in diesen turbulenten Zeiten zu?

Die Energiekrise ist in der Tat das drängendste Problem, dem wir derzeit gegenüberstehen, und wir müssen ehrlich sein – der Winter wird hart. Unsere Energieversorgung ist unter Druck geraten, vor allem aufgrund der Maßnahmen Russlands, doch es gibt auch noch weitere Faktoren: Wir haben eine Dürre erlebt, es gab eine Windflaute, zudem kam es im Bereich der Kernenergie und bei der Schifffahrt – aufgrund des niedrigen Wasserstands – zu Engpässen. So sind gewissermaßen sehr viele Negativ-Faktoren auf einmal zusammengekommen. Am wichtigsten ist es, dass wir nun alles daran setzen, den Energiebedarf zu steuern und zu senken.

Nach Einschätzung der GD FISMA ist an einigen Finanzmärkten ein gewisses Maß an Stress auszumachen, insbesondere an Märkten, die im Zusammenhang mit dem Energiebereich stehen, etwa Märkte für Stromterminkontrakte. Aber was an den Finanzmärkten passiert, ist eher ein Symptom, und nicht die Ursache. Daher ist ganz klar, dass wir die zugrunde liegenden Ursachen angehen müssen. Möglicherweise sollten wir aber auch prüfen, was wir im Hinblick auf den Betrieb dieser Märkte tun können, um einen Teil dieses Stresses abzumildern, ohne dabei ein inakzeptables Maß an Risiko in das System einzubringen. In ihrer Rede zur Lage der Union am 14. September hat Präsidentin von der Leyen ein erstes Paket von Notmaßnahmen im Energiebereich angekündigt, um EU-weit auf die Schwierigkeiten zu reagieren, die die hohen Energiepreise für Verbraucherinnen und Verbraucher sowie für Unternehmen nach sich ziehen. Was unseren Bereich betrifft, hat die Präsidentin erläutert, dass wir mit den Regulierungsbehörden bei der Festlegung eines repräsentativeren Richtwerts zusammenarbeiten werden, die Liquiditätsprobleme auf den Märkten für Stromterminkontrakte durch eine Änderung der Vorschriften über Sicherheiten angehen und Maßnahmen prüfen werden, um die Intraday-Preisvolatilität zu begrenzen.

Wir haben sechs Sanktionspakete auf den Weg gebracht. Was unternimmt die GD FISMA, um deren Umsetzung und Durchsetzung zu verbessern, die heute zunehmend im Mittelpunkt stehen? Funktionieren die Sanktionen? Und wie messen wir ihren „Erfolg“?

Dass Sanktionen zu einem zentralen Bestandteil unserer Arbeit werden würden, kam eher unerwartet. Wir haben einiges auf den Weg gebracht, und nun konzentrieren wir uns immer mehr auf die Umsetzung, die nach wie vor in erster Linie in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Es gibt allerdings Möglichkeiten, den Mitgliedstaaten unter die Arme zu greifen. Am wichtigsten sind hierbei Leitlinien, damit die Mitgliedstaaten wissen, wie sie die Sanktionen umsetzen sollen. Wir haben Antworten auf über 500 häufig gestellte Fragen bereitgestellt, was von den Mitgliedstaaten sehr positiv aufgenommen wurde. Darüber hinaus haben wir das „Whistle-blower Tool“ entwickelt, das es Personen, die Verstöße gegen Sanktionen feststellen, ermöglicht, diese anonym zu melden. Des Weiteren versuchen wir, uns beim Austausch von Informationen und Einschätzungen enger mit den Mitgliedstaaten abzustimmen. Wir haben unsere Sachverständigengruppe, und Kommissarin McGuinness hat angekündigt, dass wir eine hochrangige Gruppe von Sanktionskoordinatorinnen und -koordinatoren aus den Mitgliedstaaten einsetzen werden. Was den „Erfolg“ der Sanktionen betrifft, so sei daran erinnert, dass es Zeit braucht, bis sie ihre volle Wirkung entfalten. Wir sollten die Wirksamkeit von Sanktionen nicht auf der Grundlage von Erfahrungen bewerten, die binnen weniger Monate gesammelt wurden.

Dieses Jahr stand im Zeichen des Digitalen: Die beiden gesetzgebenden Organe erzielten vor dem Sommer zunächst eine Einigung über die DORA-Verordnung, dann über die MiCA-Verordnung. Wie sehen Sie die künftige digitale Agenda?

Dies ist ein Bereich, der sehr schnell wächst, sich weiterentwickelt und in dem es Innovationen gibt. Bei der Regulierung des Sektors ist die EU weltweit führend. Das Gesetzgebungsverfahren für DORA und MiCA ist fast abgeschlossen, was einen bedeutenden Erfolgt dieser Kommission darstellt. Dennoch gibt es Aspekte, die nicht von der MiCA abgedeckt werden, wie etwa die dezentrale Finanzierung – nicht, weil wir uns dafür entschieden hätten, den Bereich auszuklammern, sondern weil er zum Zeitpunkt der Vorlage des Vorschlags nicht im Fokus stand. Ich denke, dass daher in diesem Bereich in Zukunft weitere Regulierungsarbeiten erforderlich sein werden. Und wir müssen möglicherweise auch über die Regulierungsmethode in diesem digitalen Raum nachdenken. Die Entwicklungen im digitalen Finanzwesen scheinen sehr schnell voranzugehen und sehr innovativ zu sein. Wenn Sie sich in anderen Teilen der Welt umschauen, sehen Sie, dass Länder wie die USA und das Vereinigte Königreich Modelle ins Auge fassen, bei denen hinsichtlich der Steuerung aufsichtsrechtlicher Risiken im digitalen Sektor stärker auf das Regelwerk der Regulierungsbehörde zurückgegriffen wird. In der EU werden wir also Überlegungen anstellen müssen, wie wir vorgehen wollen, um diesen Sektor regulieren.

Bislang haben wir im Grunde genommen unseren traditionellen Ansatz verfolgt, auch bei DORA und MiCA, d. h. wir regulieren den Intermediär, also die Plattform, den Diensteanbieter etc.  Eine Sichtweise ist, dass das Konzept eines dezentralen Finanzsystems einen solchen traditionellen Regelungsansatz vor Herausforderungen stellt. Für uns könnte die Schwierigkeit darin bestehen, dass der Intermediär im dezentralen Finanzwesen sich möglicherweise nicht über Verhaltensanreize regulieren lässt.  Hier besteht also eine große Herausforderung, die ein gewisses Maß an Reflexion erfordern dürfte – nicht nur über die Verfahren, wie wir regulieren, sondern auch über das Wesen der Regulierung an sich.

Könnten Sie uns mit Blick auf den Bereich des nachhaltigen Finanzwesens die nächsten Schritte erläutern, die in den kommenden Monaten anstehen – insbesondere im Hinblick auf Offenlegungen und Anlageinstrumente?

Nach wie vor gibt es die Auffassung, unser nachhaltiges Finanzwesen sei sehr neuartig und sehr kompliziert. Der Ansatz ist allerdings eher traditionell und nicht sehr kompliziert: Wir haben eine Taxonomie mit Definitionen, eine Reihe von Offenlegungen auf der Grundlage dieser Definitionen, und dann verschiedene Instrumente, die es Anlegern ermöglichen, diese Definitionen und Offenlegungen leicht zu nutzen. Einen Teil der Offenlegungsregelung, d. h. den Teil, der sich auf Intermediäre bezieht, haben wir bereits eingeführt. Mit den anderen Teilen sind wir nun auch gut vorangekommen. Wir haben viel an der Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen gearbeitet, über die nun eine Einigung erzielt wurde. Durch die Offenlegungspflichten für den Unternehmenssektor wird dafür gesorgt, dass die grundlegenden Informationen geliefert werden, die die Intermediäre gegenüber den Anlegern offenlegen müssen. Die EFRAG arbeitet die Standards für die Berichterstattung aus, die wir dann im Wege delegierter Rechtsakte einführen werden. Neue Berichtspflichten sind für das Finanzsystem zwangsweise mit Aufwand verbunden. Das System kann diesen Aufwand jedoch so lange absorbieren, wie zwischen Inputs und Outputs ein Gleichgewicht besteht. Zum Instrumentarium lässt sich sagen, dass wir an den Standards für grüne Anleihen arbeiten. Hier müssen wir dafür sorgen, dass wir einen guten Standard entwickeln, der als Marktbenchmark dienen kann, aber nicht zu hohe Anforderungen stellt und daher in der Praxis nicht zur Anwendung kommt. Ich bin der Auffassung, dass der von uns vorgelegte Vorschlag gut war – jetzt müssen wir sehen, wie die Mitgliedstaaten dieses Gleichgewicht wahren. Wir arbeiten außerdem an den ESG-Ratings.

Besteht nach wie vor realistisch die Möglichkeit, dass Fortschritte bei der Bankenunion erzielt werden?

Trotz aller Bemühungen ist es den Mitgliedstaaten nicht gelungen, sich im Juni auf einen Fahrplan zu einigen, da dies mit zu vielen politisch sensiblen Kompromissen verbunden gewesen wäre. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Vollendung der Bankenunion nach wie vor von entscheidender Bedeutung ist. Derzeit konzentrieren wir uns auf ein Element des möglichen Fahrplans, bei dem ein größerer Konsens über die Marschrichtung besteht – der Rahmen für das Krisenmanagement im Bankensektor und für die Einlagensicherung. Die Mitgliedstaaten erkennen an, dass wir den derzeitigen Rahmen verbessern müssen. Es besteht jedoch nicht unbedingt Einigkeit darüber, wie wir den Rahmen ändern müssen; die Verhandlungen werden also kompliziert sein. Auch hier geht es um politisch sensible Fragen, etwa um den Schutz der Steuerzahler und den Schutz der Einleger. In diesem Zusammenhang müssten auch die nationalen Rahmen in gewissem Maße harmonisiert werden. Jeder Mitgliedstaat ist jedoch verständlicherweise der Auffassung, dass er über den besten Rahmen verfügt, da sich sein eigener Rahmen unter Berücksichtigung der nationalen Präferenzen weiterentwickelt hat.  Wir sind bei unseren Vorbereitungen recht gut vorangekommen. Anfang nächsten Jahres könnten wir also einen Vorschlag annehmen.

Wie sehen Sie die bisherigen Fortschritte bei der Kapitalmarktunion (CMU), sowohl mit Blick auf die laufenden Verhandlungen als auch auf die anstehenden Vorschläge?

Es war schwierig, politische Impulse für die Kapitalmarktunion zu schaffen. Wenngleich Sie oft hören werden, dass die Kapitalmarktunion eine großartige Idee ist, ist sie kein Projekt, für das in umfassender Weise politische Vorstellungskraft entwickelt wurde. Es handelt sich um ein sehr technisches Dossier, das nicht leicht verständlich ist. Es gibt hier keine Patentlösung, man muss an einer ganzen Reihe spezifischer, miteinander verknüpfter Dossiers arbeiten. So lässt sich das Makronarrativ gut darstellen – die CMU hat sehr positive Auswirkungen auf eine effiziente Allokation, das Risikomanagement und die private Risikoteilung. Schwieriger wird es jedoch, wenn man tiefer einsteigen will – welcher Zusammenhang besteht zwischen dem konsolidierten Datenticker und dem Rechtsakt zur Börsennotierung, oder wie können wir Börsengänge fördern? Ein weiteres Problem, das wir mit der Kapitalmarktunion hatten, besteht darin, dass es in diesem Rahmen zwei Arten von Maßnahmen gibt. Es gibt solche, mit denen Friktionen an den Märkten angegangen werden, und solche, die grundlegende Aspekte eines Binnenmarkts betreffen. Der Binnenmarkt eines jeden Mitgliedstaats wird durch die gemeinsamen Gesetze, etwa in den Bereichen Rechnungsführung, Besteuerung, Beaufsichtigung, Insolvenz usw., bestimmt.  Hierbei handelt es sich um grundlegende Bestimmungen, deren Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten über den Finanzsektor hinausgehen. Wir kommen in den Bereichen Insolvenz und Besteuerung voran. Aber wir müssen realistisch sein – wir werden morgen keinen europäischen Insolvenzrahmen oder einen EU-Steuerrahmen für Wertpapiermärkte einführen. Andererseits müssen wir diese grundlegenderen Anforderungen der Kapitalmarktunion erörtern, und es ist wichtig, dass die Mitgliedstaaten mehr Bereitschaft für solche Erörterungen zeigen.

Wie geht es künftig weiter?

Die erste Hälfte des Mandats liegt hinter uns, und wir haben in diesen ersten zweieinhalb Jahren sehr wirksam gearbeitet. Wir haben fast alles auf den Weg gebracht, was wir zugesagt hatten, und dank des Teams in der GD FISMA tragen wir zur Erreichung der Zielsetzungen im Mandatsschreiben der Kommissarin bei, worauf ich sehr stolz bin. Doch auch wenn wir unser Augenmerk nun in erster Linie auf die Umsetzung richten müssen, ist unsere künftige Agenda prall gefüllt, und es stehen noch zahlreiche Vorschläge an, etwa in den Bereichen Clearing, Bankenunion und CMU, Zahlungen und offenes Finanzwesen, digitaler Euro usw. Die Herausforderung wird also darin bestehen, diesen neuen Vorschlägen Priorität einzuräumen und gleichzeitig das bisher Erreichte weiter voranzutreiben.