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Grenzregionen als Laboratorien der europäischen Integration

  • 06 Jul 2022
Das wachsende Bewusstsein dafür, wie wichtig Grenzregionen für die europäische Einheit und Entwicklung sind, hat die Forderung nach mehr Freiheit bei Entscheidungen und der Durchführung von Projekten für diese Regionen genährt.
Grenzregionen als Laboratorien der europäischen Integration

Dies war eine der zentralen Botschaften des EU-Grenzforums, das vom 21. bis 22. Juni in Paris unter dem Thema „Grenzregionen: Fatalismus oder Resilienz?“ stattfand.

„Geben Sie den Regionen mehr Flexibilität, geben Sie den lokalen Beteiligten den Raum, Projekte ohne die Last der nationalen Verwaltung durchzuführen“, sagte Thomas Zeller, Präsident des Trinationalen Eurodistrict Basel, einer Organisation von deutschen, französischen und schweizerischen Städten und Gemeinden.

Diese Forderung wurde von anderen Redebeitragenden unterstützt. Die Flüchtlingskrise im Jahr 2015, die COVID-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben die Grenzen bestehender grenzüberschreitender Abkommen zwischen Mitgliedstaaten aufgezeigt. Aber Aufgeben ist keine Option. Wohlhabende, widerstandsfähige und unterstützende Grenzregionen werden gebraucht und können durch Experimentieren und dezentrale öffentliche Maßnahmen realisiert werden.

 

Zerbrechliche Einheit

Es sei zwar „märchenhaft“, was in den Grenzregionen bereits erreicht worden ist, aber viele Aspekte des Lebens könnten noch verbessert werden, darunter grenzüberschreitende Steuerabkommen, die Anerkennung von Bildungsabschlüssen und der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen für Menschen, die in diesen Regionen leben und arbeiten, sagte Marc Lemaître, Generaldirektor der Generaldirektion für Regionalpolitik und Stadtentwicklung der Europäischen Kommission (GD Regio).

In ihrem Bericht Grenzregionen in der EU: Reallabors der europäischen Integration aus dem Jahr 2021 schlägt die Europäische Kommission vor, die Bemühungen zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf vier Bereiche zu konzentrieren: Widerstandsfähigkeit durch eine vertiefte institutionelle Zusammenarbeit, mehr und bessere grenzüberschreitende öffentliche Dienstleistungen, dynamische grenzüberschreitende Arbeitsmärkte und Grenzregionen für den europäischen Grünen Deal. Die Diskussionen im Rahmen des Forums drehten sich um diese Themen.

Für eine bessere institutionelle Zusammenarbeit

Grenzregionen müssen zusammenarbeiten und ihre Ressourcen bündeln, um Herausforderungen wie dem Klimawandel, einer alternden Bevölkerung und einer sinkenden Geburtenrate zu begegnen. Zwischen den EU-Mitgliedstaaten gibt es bereits zahlreiche formelle Strukturen und Abkommen zur Förderung dieser Zusammenarbeit. Dazu gehören das EU-Katastrophenschutzverfahren, die Verträge von Aachen und Quirinale zwischen Frankreich und Deutschland bzw. Italien, die Benelux-Union und der Freizügigkeitsrat der nordischen Staaten.

Die bestehenden Kooperationsvereinbarungen zwischen grenzüberschreitenden Gemeinschaften sind jedoch nicht ausreichend in eine formale, institutionelle Struktur eingebunden. Durch die schwache Institutionalisierung seien politische Maßnahmen beidseits der Grenze nur unzureichend entwickelt, so Charlotte Halpern, Wissenschaftlerin am Pariser Institut für politische Studien.

Laut dem Grenzregionenbericht hängt die Widerstandsfähigkeit der Grenzregionen weitgehend vom institutionellen Aufbau und vom Grad der Vorbereitung ab. Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten zur Entwicklung von Grenzregionen werden häufig durch unvereinbare rechtliche Rahmen behindert. Die Zuständigkeit für die Bewältigung solcher Herausforderungen liegt jedoch häufig auf nationaler Ebene.

Zur Förderung der Entwicklung der Grenzregionen sollten den lokalen, regionalen und nationalen Behörden verschiedene Instrumente zur Verfügung gestellt werden. Die Europäische Kommission hat den Mechanismus zur Überwindung rechtlicher und administrativer Hindernisse in einem grenzübergreifenden Kontext (ECBM) als ein solches Instrument vorgeschlagen.

Dieses Instrument würde die Abweichung von nationalen Rechtsvorschriften bei bestimmten Projekten oder Dienstleistungen und dadurch die Anwendung eines einzigen Regelwerks in einer Grenzregion ermöglichen. Das wäre ein wichtiger Schritt zur Überwindung rechtlicher Hindernisse bei der Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen oder Leistungen beispielsweise in der medizinischen Notfallversorgung.

Die Redebeitragenden stellten mehrere Lösungen und Initiativen vor, die in die richtige Richtung gehen. Im Rahmen des Raumplanungsprojekts 3Land arbeiten seit 2011 die Städte Huningue (Frankreich), Weil am Rhein (Deutschland) und Basel (Schweiz) zusammen. Diese einzigartige trinationale Initiative bietet die Möglichkeit einer koordinierten Entwicklung der lokalen Wirtschaft, von Wohngebieten und der Verkehrsinfrastruktur.

Die 2018 von der Kommission ins Leben gerufene Initiative b-solutions hat verdeutlicht, dass zur Bewältigung grenzüberschreitender Probleme Behörden mehrerer Ebenen einbezogen werden müssen und oftmals rechtliche Änderungen notwendig sind. Sie zeigt auch, dass die meisten Hindernisse im nationalen Recht begründet sind.

Im Rahmen dieser Initiative wurden bereits viele Fälle von grenzbedingten Hindernissen in 27 Grenzregionen behandelt, vor allem in den Bereichen Beschäftigung, öffentlicher Verkehr, Gesundheitswesen und institutionelle Zusammenarbeit. Diese Initiativen ebnen den Weg für längerfristige bilaterale Abkommen auf nationaler oder regionaler Ebene.

Wo ein starker Wille zur Hilfe vorhanden ist, findet sich auch ein Weg. Als Russland im Februar dieses Jahres die Stromversorgung der Ukraine kappte, hätten die europäischen Stromnetzbetreiber eine Vereinbarung getroffen und das Land innerhalb von drei Wochen an das Netz der EU angeschlossen, sagte Damian Cortinas, Vorstandsmitglied von ENTSO-E, dem Verband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber.

„Als Branche suchen wir nach Lösungen, durch die wir gemeinsam wachsen und dabei die Besonderheiten der einzelnen Länder respektieren“, so Cortinas.

Arbeiten jenseits der Grenze

Wirklich auf den Prüfstand gestellt werde die grenzüberschreitende Integration aber dann, wenn viele Menschen in zwei Ländern arbeiten und leben, sagte Tue David Bak, Geschäftsführer von Greater Copenhagen und Mitglied der Wachstumskommission für ein inklusives und nachhaltiges Malmö.

Während der COVID-19-Lockdowns hätten Schwedinnen und Schweden, die normalerweise in Dänemark arbeiten – und dort Steuern zahlen – von zuhause aus gearbeitet. Als die schwedischen Steuerbehörden dies erkannten, hätten sie die Betroffenen aufgefordert, stattdessen Steuern in Schweden zu zahlen, was einen „administrativen Alptraum“ verursacht habe.

Laut Bak hat die Organisation die Regierungen dazu bewegt, über eine Lösung zu verhandeln. Strukturen wie die Wachstumskommission helfen auf lokaler Ebene bei der Lösung von Problemen, die von den nationalen Behörden in der Regel nicht als vorrangig betrachtet werden, obwohl sie für die Bürgerinnen und Bürger eine Quelle großer Frustration darstellen.

In ähnlicher Weise soll der durch den Vertrag von Aachen eingesetzte Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit die grenzüberschreitenden Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland fördern. Der Vertrag sei ein erster Schritt, benötigt werde aber ein gemeinsamer Rechtsrahmen für die Besteuerung von Grenzgängern, sagte Christoph Schnaudigel, Landrat des Landkreises Karlsruhe und Präsident des Eurodistrikts PAMINA.

Die lokalen Behörden bräuchten mehr Kompetenzen, um Probleme selbst lösen zu können, da der Gang zu den nationalen Behörden zeitaufwendig sei. Die Idee der Grenzregionen als Laboratorien kam auch hier stark zum Ausdruck.

Die Grenzregionen nur als Arbeitsgebiete zu betrachten, ist eine zu begrenzte Sichtweise. Stattdessen müssen sie ganzheitlich betrachtet werden. Das Netzwerk der Anlaufstellen „Grenze“ bringt Expertise der Kommission für grenzüberschreitende Fragen zusammen, um die Zusammenarbeit in allen Bereichen des Lebens in den Grenzregionen zu fördern – einschließlich in Bildung, Gesundheitswesen, Kultur und Katastrophenschutz – und dadurch Regionen zu schaffen, in denen die Zusammenarbeit formaler strukturiert ist. Dadurch werde ein projektbezogener Ansatz vermieden, sagte Nathalie Verschelde, stellvertretende Leiterin des Bereichs für grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Europa (Interreg) bei der GD Regio.

Öffentliche Dienstleistungen

Viele öffentliche Dienstleistungen, insbesondere im Gesundheitswesen, stünden vor dem Problem, dass sie den Menschen auf regionaler und lokaler Ebene dienen, aber in die nationale Zuständigkeit fallen, so Pavel Branda, stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Rádlo in Tschechien und Mitglied der Fachkommission für Kohäsionspolitik und EU-Haushalt im Ausschuss der Regionen.

Dies sei einer der Gründe für die Forderung, den lokalen Behörden mehr Handlungsspielraum bei der Durchführung von Projekten und bei Entscheidungen zu geben, ohne dass sie den Umweg über die nationalen Behörden nehmen müssen.

Eine Studie zu grenzüberschreitenden öffentliche Dienstleistungen von ESPON, einer von der EU finanzierten territorialen Beobachtungsstelle, habe ergeben, dass sich die grenzüberschreitenden Beziehungen seit der Finanzkrise 2018 verstärkt haben und dass nationale Gesetze die lokalen Beziehungen beeinflussen, so Nicolas Rossignol, Leiter des Referats für Evidenz und Öffentlichkeitsarbeit bei ESPON.

Gilbert Schuh, Vizepräsident des Département Moselle und zuständig für internationale Beziehungen, grenzüberschreitende Zusammenarbeit, Mehrsprachigkeit und die Großregion, sieht bereits viele Beispiele für eine erfolgreiche Zusammenarbeit und „Grenzblindheit“. Die Region Saarbrücken-Forbach blicke auf eine lange Tradition der Zweisprachigkeit und Zusammenarbeit. Zu ihren erfolgreichen Projekten gehöre die gemeinsame Entwicklung von 30 km Buslinien, auf denen 80 000 Fahrgäste pro Jahr befördert würden.

Schuh lobte Interreg für die Unterstützung von Experimenten in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Die Herausforderung bestehe jedoch darin, diese Experimente zu verstetigen oder in Modelle umzusetzen, die auf andere Regionen übertragbar sind.

Einige Grenzregionen seien bereits so gut integriert, dass die Schließung des öffentlichen Verkehrs wegen COVID-19 entlang der französisch-deutschen Grenze von den Grenzgängern als „Aggression“ empfunden worden sei, sagte Schuh. Dank einer lokalen Initiative sei innerhalb von vier Tagen ein COVID-Testzentrum an der Grenze eingerichtet worden, das Menschen den Grenzübertritt zur Arbeit ermöglicht habe.

Jugend: eine Säule der grenzüberschreitenden Beziehungen

Wie im Grenzregionenbericht von 2021 festgestellt wird, spielen junge Menschen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Grenzregionen.

Die ehemalige Interreg-Freiwillige Bektha Djilidjel sagte dem Grenzforum, sie sei in Straßburg aufgewachsen und habe nie eine physische Grenze zu Deutschland erlebt. Sie betrachte beide Seiten des Rheins als Teil ihres Lebens, sagte Djilidjel während einer Diskussion über die Rolle der Zivilgesellschaft und der Jugend bei der Entwicklung grenzüberschreitender Beziehungen.

Zum ersten Mal sei ihr bewusst geworden, dass es tatsächlich eine Grenze gibt, als diese wegen COVID-19 geschlossen wurde. Dies habe sie motiviert, die grenzüberschreitende Dynamik besser zu verstehen, und sie zur Teilnahme an einem Interreg-Freiwilligenprogramm veranlasst.

Während ihrer Freiwilligentätigkeit habe sie festgestellt, dass man es in Institutionen vielfach nicht gewohnt sei, dass junge Menschen an der Durchführung von Projekten beteiligt sind. Indem junge Menschen in ein institutionelles Umfeld eingebunden werden, könnten Mitarbeitende von Institutionen davon überzeugt werden, dass diese jungen Menschen nicht nur zum Lernen da seien, sondern auch etwas zum Aufbau grenzüberschreitender Beziehungen beitragen könnten, so Djilidjel.

Neben der Einbindung in formale Strukturen müssten innovative Wege gefunden werden, um junge Menschen in Entscheidungen vor Ort einzubeziehen. Chantal Jouanno, Präsidentin der französischen Nationalen Kommission für öffentliche Debatten, sagte, es würde nicht funktionieren, von jungen Menschen zu erwarten, dass sie an Debatten über Projekte in Rathäusern teilnehmen oder Fragebögen ausfüllen. Andere Hilfsmittel sollten eingesetzt werden, z. B. 3D-Brillen, mit denen sich die Ergebnisse eines Projekts veranschaulichen lassen.

Um sicherzustellen, dass die gute Arbeit im Rahmen des Europäischen Jahrs der Jugend auch nach 2022 fortgesetzt wird, müssten Räume geschaffen werden, in denen junge Menschen miteinander und mit den Institutionen kommunizieren können, damit diese Interaktion regelmäßig stattfindet, sagte Djilidjel.

„Die Jugend sollte kein Trend sein, sondern ein Thema“, sagte sie.

 

Nachhaltigkeit mit Stil

Die ökologische Wende sei ein Beschleuniger für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, sagte Anna Karina Kolb, Direktorin der Abteilung für Außenbeziehungen und Bundesangelegenheiten des Schweizer Kantons Genf. Der Léman Express, der täglich fast 60 000 Personen zwischen Frankreich und der Schweiz befördere, sei ein Beispiel dafür, wie die Umstellung auf einen umweltfreundlicheren Verkehr gelingen kann, wenn die Beteiligten auf beiden Seiten der Grenze zusammenarbeiten. Gleichwohl betonte sie, dass noch eine rechtliche Struktur für die Verwaltung des Express gefunden werden müsse.

Die Zusammenarbeit zur Verwirklichung der Umweltziele der EU spiegelt sich in den Zielen des Neuen Europäischen Bauhauses wider. Die Initiative bringt Bürgerinnen, Bürger und Politik, Design und Kunst zusammen, um ein nachhaltiges Leben als „Nachhaltigkeit mit Stil“ neu zu definieren, wie Kommissarin Elisa Ferreira in ihrer aufgezeichneten Rede sagte, die im Rahmen des Forums gezeigt wurde.

Grenzregionen können als Reallabors für das Bauhaus dienen, das sicherstellen soll, dass die Ziele des Grünen Deal – Nachhaltigkeit und Umweltschutz – zuhause und am Arbeitsplatz verwirklicht werden.

 

Stärkerer Impuls für grüne Energie

Die EU-Sanktionen gegen Russland nach dessen Einmarsch in der Ukraine im Februar haben die Abhängigkeit Europas von russischem Gas verdeutlicht und den Anstoß zu einer stärkeren Zusammenarbeit innerhalb der EU bei grünen Energieprojekten gegeben.

Die Bemühungen um die Entwicklung von Alternativen beziehen sich auch auf Wasserstoff, doch dazu müssten ein Markt, eine Infrastruktur und die Vernetzung mit den Nachbarländern aufgebaut werden, sagte Tineke Bolhuis, Leiterin der Geschäftsentwicklung bei Hydrogen Gasunie und Projektleiterin für ein Wasserstoffnetz in der niederländischen Provinz Zeeland. Jedes Land müsse seinen eigenen Markt entwickeln, zugleich müsse aber ein Schwerpunkt auf der EU-weiten Errichtung der Pipelines liegen.

Dem Bericht für das Jahr 2021 zufolge könnte der ECBM zur Entwicklung eines grenzüberschreitenden Rechtsrahmens für den Einsatz erneuerbarer Energien beitragen.

Der Vertrag von Quirinal ist ein Beispiel für den Versuch, ein neues Modell der Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Italien zu entwickeln, das auch Umweltbelange berücksichtigt. Dadurch soll die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Italien auf europäischer Ebene gefördert werden, damit die EU ihr Klimaneutralitätsziel für 2050 erreichen kann.

Ungenutztes Potenzial

30 % der EU-Bevölkerung leben in Grenzregionen, die 40 % des Gebiets der EU ausmachen. Das Grenzforum hat gezeigt, wie wichtig Grenzregionen für die Förderung eines nachhaltigen und inklusiven Wachstums sind, und es hat Impulse gesetzt, um europäische und nationale Behörden davon zu überzeugen, diesen Regionen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Erst wenn anerkannt werde, dass die Grenzregionen zum Wohlstand und zur Einheit Europas beitragen, werde auch die Motivation vorhanden sein, „kleinere Probleme“ wie Lizenzen und Steuern zu lösen, so Tue David Bak.

Das Grenzforum wurde von der französischen Transfrontier Operational Mission ausgerichtet und im Rahmen der französischen EU-Ratspräsidentschaft organisiert. Es wurde von der Europäischen Kommission und dem Ausschuss der Regionen teilfinanziert.